Ursula Frohne
Man muss die Zeit verlassen
Spätestens mit dem Aufkommen der Photographie
schien es, als habe die Zeichnung ihre Vorläuferfunktion
für die Malerei eingebüßt. Doch seit dem Surrealismus
hat die Zeichnung entgegen aller Prophezeiungen
eine Reihe von Metamorphosen durchlaufen, in deren
Folge sie das Ghetto ihrer darstellerischen Hilfsfunktion
verlassen und sich als eigenständiges Ausdrucksmittel
neue Handlungsfelder erschlossen hat.
Zeichnung wird heute nicht mehr als Skizze oder Studie
im Vorfeld der Entstehung des eigentlichen Werks
aufgefasst, sondern als ein Medium, das gerade wegen
seiner Offenheit, vielfältige Korrespondenzen mit
der Installation, der Skulptur, der Aktions- und Konzeptkunst
und sogar mit der Ästhetik der digitalen Bilder
eingeht.
Dies hat ihr in der aktuellen Kunst eine umfassende
Neubewertung beschert. Doch sind die hier
präsentierten Arbeiten von Susanne Schossig nicht im modischen Aufwind der Zeichnung im gegenwärtigen
Kunstbetrieb entstanden. Allenfalls eröffnet sich
in diesem erwachten Interesse an der Zeichnung ein
unverbrauchter Blick auf die Möglichkeiten dieser
künstlerischen Praxis. Die Biographie der Künstlerin,
aber auch ihre souveräne Handhabung der zeichnerischen
Technik, belegen eine längere, organisch gewachsene
Liaison mit der Zeichenkunst. Das Zeichnen ist
Susanne Schossig über viele Jahre der intensiven Arbeit
mit Chinatusche und Transparentpapier buchstäblich
in Fleisch und Blut übergegangen. Denn wie die dichte
Struktur unzähliger knapper Linien erahnen lässt,
entstehen diese Arbeiten in der ausdauernden, unablässigen
Gleichförmigkeit einer insistierenden
Strichführung, die sich wie ein Gewebe an der Oberfläche
des Trägermaterials verdichtet. Mehrere
Schichten unterschiedlicher Helligkeitsstufen oder
Farbapplikationen überlagern sich in diesen ebenso
transparenten wie undurchsichtigen Texturen. Das
Auge unternimmt eine archäologische Zeitreise durch
die unterschiedlichen Formationen der Bewegungsspuren,
die sich in einem optischen Spiel der dunklen
und hellen, der positiven und negativen Akzente
miteinander verbinden. Es entsteht ein Mikrokosmos
der Zeichen, in dem die körperliche Aktion mit der
geistigen Reflexion kondensiert.
Zeichnung will nichts darstellen, sondern wird
als eine Übung der Vertiefung und Konzentration
auf den Prozess des Arbeitens selbst betrieben. Sie ist
Selbstzweck und daher befreit von jeglicher Ambition
und Repräsentationspflicht. Sie bezieht ihre Energie aus
dem knappen Gestus der Hand, der sich wie in einem
Ritual verselbständigt und schließlich – wie der natürliche
Rhythmus des Atmens – dem selbstvergessenen
Fließen der körperlichen Motorik anheimfällt.
Diese unmittelbare Verbindung zwischen kognitiven
Prozessen und körperlichem Ausdruck, die
besonders in der Zeichnung zum Tragen kommt, ist für
die Hirnforschung von großem Interesse. „Die Intelligenz
der Hand“, von der einige Kunsthistoriker heute
im Hinblick auf den „Reflexionsgehalt beim Prozess
des Zeichnens“ sprechen, meint jenes Zusammenwirken
von körperlicher Motorik und Bewusstsein, das
im Bewegungsablauf des Zeichnens Form annimmt.
Schon die Surrealisten wussten diese sensorische
Eigenschaft des Zeichnens für ihre Bergungsversuche
des Unbewussten zu nutzen. Doch Susanne Schossig
geht es weniger um diese psychologische Dimension
der Zeichnung im Sinne eines Psychogramms, wenn
sie auf die rationale Kontrolle über ihre Ausdrucksweise
verzichtet und das „Wollen„ durch eine Ritualisierung
ihrer Arbeitsweise ausschaltet. Ihre langjährige
Verbindung zur Zen Meditation spiegelt sich in
der entspannten Konzentration ihrer künstlerischen Arbeitsweise. Das vollkommene Bei-sich-Sein in der
Meditation, in der die Gedanken nicht in die Zukunft
schweifen, sondern in der Gegenwart verharren, ist
ein Prinzip, das in ihren Zeichnungen begreifbar wird.
Es ist ein Arbeiten in Konzentration, jedoch ohne
zu denken. Eine Praxis. Ein Ritual, in dem das Denken
überflüssig wird, weil die Abläufe vorgegeben sind
und ihren Eigensinn entwickeln. Der Rhythmus des Körpers
übernimmt das Voranschreiten auf der Fläche,
wie ein Gehen ohne zu denken, denn „Intuition kann
man nicht bestimmen oder Erzwingen“, wie die
Künstlerin bemerkt. Das Neue wird nicht gesucht oder
erzwungen. Sondern das Vertrauen in das Arbeiten
wird zur Übung, aus der heraus das Neue als Erfahrung
seine Form gewinnt.
„Man muss die Zeit verlassen“, sagt Susanne
Schossig, um sich dieser extrem Zeit absorbierenden
Tätigkeit vollends hinzugeben – ein Luxus, der in
unserer von Leistungsansprüchen dominierten Gegenwart
vielleicht nur noch in der Kunst seine bildhafte
Entsprechung findet. In diesem Sinne sind Susanne
Schossigs z. T. auch großformatigen Zeichnungen
ungewöhnliche Zeitreservoire. Indem sie sich auch
als Installationen in den Raum hinein erweitern,
erschließen sie verlorene Freiräume der Muße und der
gedanklichen Vertiefung. Anders als die Ökonomie
unserer Lebensverhältnisse, die auf einem Denk- und
Handlungsschema beruht, das mit dem Minimum
an Zeit und Aufwand ein Maximum an Nutzen erzielen
will, wirken diese Arbeiten zeit-los. Der Effizienzgedanken,
der heute jede Facette unserer Arbeitswelt
und selbst noch unsere Freizeit dominiert, steht in
krassem Gegensatz zu der hier sichtbar werdenden
Praxis einer zeitintensiven, vielleicht sogar absichtlich
verschwenderischen Zeitverlorenheit. Der Zugriff
auf den Menschen erfolgt heute über die Zeitverfügung.
„Je weniger Zeit da ist, die man einander schenken
könnte,“ so schreibt die Kulturwissenschaftlerin und
Soziologin Gerburg Treusch-Dieter, „umso mehr
verfallen wir einer Kosten-Nutzen-Rechnung, die bis
in unsere privatesten Beziehungen hinein reicht.“
In diesem Sinne sind die Zeichnungen von Susanne
Schossig auch Teil einer Lebenspraxis, die sich dieser
Ökonomie entzieht und uns an den letzten Reservoiren
eines verlorenen Zeitmaßes teilhaben lässt, in dem
ein Handeln ohne Ziel, im Selbstzweck der Gegenwart,
Freiräume der Selbstfindung und Selbsterfindung
schafft.
Aus der Rede zur Eröffnung der
Ausstellung in der Galerie Reinfeld,
Bremen 2005
Ursula Frohne
One Has to Leave Time
At the latest with the emergence of photography,
drawing seemed to have lost its function as a pre-stage
of painting. Against all prophecies, however, drawing
has passed through a series of metamorphoses since
Surrealism which have led drawing out of the ghetto
of its representational aid function and have opened up
new fields of action for drawing as an independent
means of expression. Today, drawing is no longer regarded
as a sketch or study in the run-up phase of the
actual genesis of a work, but rather as a medium that –
due to its openness – is particularly apt to enter multiple
correspondences with installation, sculpture, action
and concept art and even with the aesthetic of digital
images.
All this has bestowed it a new comprehensive
evaluation in the field of contemporary art. Susanne
Schossig’s works have however not evolved from drawing’s
fashionable upwind in the current art scene.
At most it is thanks to this newly awoken interest in
drawing that an unspent view onto the possibilities
of this artistic practice has been opened up. The artist’s
biography as much as her sovereign technique,
both verify a long-term, organic liaison with the art of
drawing. Over many years of intensive work with
china ink and tracing paper, drawing has literary become
Susanne Schossig’s second nature. The dense structure
of uncountable, short and terse lines reveals that
these works emerge from the persistent, unceasing
conformity of an insisting stroke, condensing like a
fabric on the surface of the support material. Multiple
layers of different tones of lightness or color applications
overlap in equally transparent and opaque textures.
The eye undertakes an archaeological time-journey
through distinct formations of motion traces that coincide
within the optical interplay of dark and light, positive
and negative features. A micro-cosmos of signs comes
into being by interaction of physical action with mental
reflection.
Drawing does not attempt to represent something,
but is executed like a deepening exercise of
concentrating on the process of work itself. It is an end
in itself and therefore freed from any ambition and
representational duty. It draws its energy from the hand’s
concise gesture, which becomes independent and
finally – like the natural rhythm of breathing – is entrusted
to the unconscious flow of the physical activity.
This immediate connection between cognitive
procedures and the physical expression, coming
particularly to the fore in drawing has been of great
interest for neurological research. “The intelligence
of the hand” which some art historians refer to as the
“reflective content in the procedure of drawing”,
means this collaboration of physical action and consciousness,
which takes shape in the motion process
of drawing. Already the Surrealists knew how to make
use of drawing’s sensory characteristics for their
attempts to recover the unconscious. However, Susanne
Schossig’s interest is less directed at the psychological
dimension of drawing in the sense of a psychogram,
when she abstains from rational control over her expression
and eliminates the “will” through a ritualized
work mode. Her long-standing relation to Zen-meditation
is reflected in the relaxed concentration of her artistic
work method. The complete “being-at-herself” in
meditation, by maintaining her thoughts in the present
instead of letting them wander into the future, is the
principle that becomes conceivable in her drawings. It
is a work of concentration, without thinking. A practice.
Thought is unnecessary within this ritual, because
the procedures are pre-defined and develop their own
sense. Similar to the process of walking where thinking
is not a precondition, the body’s rhythm assumes the progress on the surface, because “intuition cannot be
determined or enforced”, as the artist comments.
The new cannot be searched for nor anticipated. Instead,
trusting in the process of work becomes an exercise
out of which the new gains its shape as a matter of experience.
“One has to leave time”, explains Susanne Schossig,
to devote oneself completely to this extremely timeabsorbing
activity – a luxury that finds its pictorial equivalent
maybe only in art during our contemporary
time, so dominated by claims to perform efficiently. In
this sense, Susanne Schossig’s often large-formatted
drawings are unusual reservoirs of time. Extended into
space through installations, they open up a freedom
to find the time for leisure and spiritual absorption. These
works appear to be time-less, in contrast to the kind
of life economy that is based on a frame of thought and
conduct that tries to achieve a maximum of profit with
a minimum investment of time. The notion of efficiency
that dominates every facet of our working world today
and even our leisure time, poses a glaring contrast to the
time-consuming, maybe even intentionally lavish loss
in time. The access taken on humans operates today via
the possession of time. “With ever less time available,
that can be shared with each other,” writes the cultural
theorist Gerburg Treusch-Dieter, “the more we sink
into a cost-profit-calculation, going over into our most
private relations.”1 In this sense, Susanne Schossig’s
drawings are also a part of a life practice that withdraws
from this kind of economy and allows us to take
part in the last reservoirs of a lost measure of time in
which action without destiny creates spaces of freedom
for self-development and self-invention in the sense of
an absolute presence.
From the speech at the opening in the
Galerie Reinfeld, Bremen 2005