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susanne schossig

Mona Schieren
Schichtungen von Weite

Die Zeichnungen

As it was in the beginning, there was no division
And no separation
Don’t look at the stars
Then your mind goes freely – way, way beyond
Look between the rain
the drops are insular
Agnes Martin

Susanne Schossig arbeitet mit Tusche Feder und Bremen 2017 Pinsel auf transparentem Material. Ihre Zeichnungen haben, je nachdem, ob man sie aus der Nähe oder aus der Ferne betrachtet, sehr unterschiedliche Wirkungen. Schaut man nah, kann man sich in den einzelnen Linien verlieren. Schaut man aus weiterem Abstand, verbinden sich die Linien zu einer opaken Fläche. Diese All-over-Zeichnungen, die keiner konventionellen Perspektive folgen und Räumlichkeit eher durch Schichtungen erzeugen, sind zu ihren Rändern hin offen, also potentiell unendlich erweiterbar. Werden die Zeichnungen je nach Installationssituation vom Sonnenlicht hinterleuchtet, wird die Tiefe der vernetzten Schichten sichtbar: gleich einem Wurzelgeflecht, einem Rhizom, das die französischen Philosophen Gilles Deleuze und Félix Guattari als die Metapher für die Verwobenheit von Welt und Mannigfaltigkeit geprägt haben - eine Struktur ohne Anfang und Ende, ohne Zentrum, in der alles in vieldimensionaler Gleichzeitigkeit existiert.

Dabei verdichtet sich materialiter in der zweiten Dimension etwas, was den Einstieg in die dritte und gar vierte – die Zeit – eröffnet. Denn es braucht Zeit, sich in die verschiedenen Schichten hineinzusehen und den Blick im Raum wandern zu lassen. Die Zeit, in der die Arbeit entstanden ist, scheint sich dann wie ein Zeitreservoir zu entfalten. Dabei ist die zweite Dimension nicht nur einfach als Fläche, sondern auch als Schichtung und Verdichtung zu betrachten. Dies wirft Fragen zu Wahrnehmung und Zeitlichkeit auf. Die Zeichnungen bekommen durch ihre Farbigkeit und freischwebende Hängung etwas Substanzloses – man könnte an farbige Aureolen oder Auren denken. Vor allem aber geht es bei den Bildern um eine immanente Ästhetik der sinnlichen Wahrnehmung jenseits auratischer Überhöhung, um die Un-Eindeutigkeit von Wahrnehmung überhaupt. Die Dinge lassen sich nicht auf eine Wahrheit reduzieren, wo es um die Flüchtigkeit und Gleichzeitigkeit von vielschichtigen Wirklichkeiten geht, die wir als wahr annehmen dürfen. Durch ihre meditative Praxis begibt sich Susanne Schossig in einen Zustand wacher Konzentration, in dem sich die Bilder entwickeln. Dabei folgt sie weniger einer vorab geplanten Bildstrategie, sondern begibt sich in einen besonderen Wahrnehmungszustand. Dieser ist an die rhythmische Malbewegung und an den Atem gebunden. Die sich wiederholende Bewegung und das eintönige Kratzen der Zeichenfeder führen zu verstärkter Wachheit in der Zeitlosigkeit. Es geht um eine Subjektivierung, die das Ich nicht mehr nur als individuiertes Subjekt auffasst und eingrenzt. So kann man Susanne Schossigs Zeichnungen auch als Netz unterschiedlicher Gleichzeitigkeiten von Seinsweisen lesen. Das Ich ist nicht begrenzt, abgesteckt oder umstellt von Ansprüchen. Es ist ein meditativer Raum der Leere, der gleichzeitig eine mannigfaltige Fülle zulässt, die sich in Susanne Schossigs Zeichnung manifestiert.

Mona Schieren, aus der Rede zur Eröffnung der Ausstellung Lichtung – Verdichtung, Villa Ichon,

Mona Schieren
Expanse of Breath

The drawings

As it was in the beginning, there was no division
And no separation
Don’t look at the stars
Then your mind goes freely – way, way beyond
Look between the rain
the drops are insular
Agnes Martin

Susanne Schossig works with India ink pen and brush on transparent material. Her drawings vary greatly in their effects, depending on whether you look at them up close or at a distance. Looking up close, you can get lost in the individual lines. But if you look at a greater distance, the lines combine to form an opaque surface. These all-over drawings, which do not follow any conventional perspective and instead create spatiality through layering, are open at their edges, and potentially can be expanded infinitely. If the drawings are backlit by sunlight – depending on the installation’s situation – the depth of the interlaced layers becomes visible: like a network of roots, a rhizome, which the French philosophers Gilles Deleuze and Félix Guattari have coined as the defining metaphor for the interwoven nature of the world and diversity – a structure without beginning or end, without a centre, in which everything exists in multidimensional synchronicity.

At the same time, something consolidates in the second dimension which opens the gates to the third and even fourth dimension – time itself. For it takes time to look into the different layers and let your gaze wander in their space. The time in which the work was created then seems to emerge as a reservoir of time. Here the second dimension is not simply understood as surface area, but also as layering and compression. This leads to questions concerning perception and temporality. The colourfulness and free-floating hanging of the drawings impart to them something insubstantial – one might think of coloured aureoles or auras. Above all, however, the pictures relate to an immanent aesthetics of sensual perception beyond auratic exaggeration – this is about the ambiguity of perception itself. Things often cannot be reduced to just one truth. It is the elusiveness and concomitance of multi-layered realities, which we may well accept as true. Through her meditative practice, Susanne Schossig enters a state of alert concentration in which the images develop. In doing so, she follows less of a pre-planned pictorial strategy, but rather enters a special state of perception. This is bound to the rhythmic painting movement and to the breath. The repetitive movement and the monotonous scratching of the pen lead to heightened alertness in timelessness. It concerns a subjectification that no longer conceives and confines the ego merely as an individuated subject. Susanne Schossig’s drawings can consequently also be read as a network of different simultaneities of modes of being. The ego is not limited, demarcated or surrounded by demands. A meditative void allows for a multifaceted abundance that makes itself manifests in Susanne Schossig’s drawings.

Mona Schieren, from the speech at the opening of the exhibition Lichtung – Verdichtung, Villa Ichon, Bremen 2017

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