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Sigrid Schade
Aufschub von Sinngebung

Über die Schwierigkeit, ungegenständlich zu zeichnen

Der Blick auf die Bilder von Susanne Schossig ruft Kategorien kunsthistorischer Einordnung auf, mit denen die Generation nach 1945 aufgewachsen ist, und die fast zu Synonymen für die westliche „Moderne“ geworden sind, nämlich „Abstraktion“ und „Gegenstandslosigkeit“.1 Abstrakt sind die sogenannten Sandbilder (Sand und Pigment auf Leinwand) wie auch die auf transparentem Material gearbeiteten farbigen und schwarz-weißen Zeichnungen. Obwohl die Abstraktion ein in der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts und der Nachkriegszeit kanonisiertes Verfahren darstellt, also scheinbar keiner Legitimation mehr bedarf, muss man feststellen, dass die kunsthistorischen Deutungsmuster nach wie vor unbefriedigend sind, die die Selbstbegründungen z. B. von Wassily Kandinsky und Kasimir Malewitsch immerzu wiederholt haben.2 Wir können (nach der deutschen Wiedervereinigung) jenseits der Verknüpfung der Abstraktion mit politischen Systemen (mit den westlichen Demokratien) neu über ihre Errungenschaften nachdenken und ihr subversives Potential, das in den Deutungen der Kunstgeschichte geradezu verschüttet ist, noch einmal ausleuchten. Dafür, dass es nach wie vor ein subversives Potential gibt, spricht vor allem die Tatsache, dass zeitgenössische Künstler*innen wie Susanne Schossig sich damit auseinandersetzen und sich mit ihren Arbeiten eher auf Paul Cézanne, Claude Monet und Barnett Newman beziehen lassen als auf Kandinsky oder Malewitsch.3 Wenn man die Errungenschaften der Abstraktion noch einmal ohne die in der Kunstgeschichte übliche Mythisierung des „Geistigen in der Kunst“ auflistet, kann man folgende Charakteristika festhalten: Die Autonomisierung der Bildmittel, die Entkoppelung von Bild und abgebildetem Gegenstand, bzw. die Thematisierung der Materialität und Medialität von Malerei, Zeichnung und anderen Gattungen.

Diese Charakteristika erzeugen vor allem einen Effekt, der sich beim Betrachten einstellt: Das Anhalten oder der Aufschub der automatischen Verknüpfung von Vorstellungsbildern mit Begriffen in unseren alltäglich ablaufenden Wahrnehmungsprozessen. Anders formuliert: ein Aufhalten der Sinngebung, die unsere Wahrnehmung so zwanghaft wie unbewusst begleitet. Subjekte sehen sich selbst immer im Zentrum ihrer eigenen Wahrnehmung. Von allem, was wir sehen, was zu sehen gegeben ist, glauben wir, dass es uns zu sehen gegeben ist und von uns gedeutet werden will, so als habe sich die ganze Welt für uns entworfen. Dieser unendliche, unstillbare, nicht aufzuhaltende Wille zur Deutung in Bezug auf uns selbst, der das Subjekt zu ihrem Zentrum macht, wird von ungegenständlichen Bildern angehalten und – wenn vielleicht auch nur für einen Moment – aufgeschoben. Damit werden auch wir als Subjekte für einen Moment aufgeschoben, angehalten und aus der Mitte unserer Wahrnehmung herauskatapultiert. Für wen – so fragen wir uns – ist etwas gemacht, das nicht an unser Verstehen appelliert und unsere Deutung nicht ohne Umstände zulässt? Sind wir es überhaupt, die deuten? Wiederholen wir nicht Deutungen, die uns durch Erziehung, Erinnerung, Konsens etc. nahelegt werden? Eine Frage, die kaum zu ertragen ist. Wir halten das Anhalten und den Aufschub nicht aus, und deshalb können wir mit dem Interpretieren nicht aufhören. Susanne Schossig sagt von ihren Bildern, dass sie „still sein“ sollen, meditativ. Es sollen Bilder sein, die der alltäglichen Geschwätzigkeit keinen weiteren Lärm hinzufügen, die es ermöglichen innezuhalten, die Alltagsgeschäfte – und damit sich selbst – zumindest zeitweise zu vergessen.

Das Stille-Machen oder anders gesagt: der Aufschub von Sinn ist gleichfalls etwas, das offenbar nicht lange auszuhalten ist. Und es ist keinesfalls leicht, Bilder zu gestalten, die diesen Anspruch erfüllen, denn dem Zwang des Deutens ist ja nicht erst der Rezipient ausgesetzt, sondern bereits die Künstlerin. Sie muss Strategien entwickeln – und zwar in der formalen Gestaltung – die die Bahnen der Wahrnehmungsmuster durchkreuzen und entkoppeln. Von Cézanne wird überliefert, dass er meinte, der Maler müsse, um zu sehen und zu malen: „vergessen, Stille machen, ein vollkommenes Echo sein“.4 Das heißt nichts anderes als: Bedeutungen dessen, was zu sehen und zu malen ist, vergessen, und das, was zu sehen und zu malen ist, selbst ins Spiel bringen – die Materialität und Medialität der Bilder, nämlich Fläche, Farbe, Pinselstriche etc. Wenn auch die ungegenständliche Malerei eine Entkoppelung des Bildes vom abgebildeten Gegenstand eingeführt hat, so hat sie sich gleichwohl einen anderen Gegenstand gewählt: ihr eigenes Material.

Offenbar konnten aber auch die Avantgarde- Künstler das Deutungs-Vakuum, das sie mit ihrer Malerei erzeugt haben, selbst nicht aushalten, denn sie produzierten häufig gleich Deutungs-Vorlagen (Manifeste) mit, an denen sich die Kunstgeschichte bis heute orientiert. Ihre Legitimations-Schriften zeugen vom Zwang zur Sinngebung. Sie zeugen auch vom Erklärungsdruck, dem die Künstler sich ausgesetzt fanden. Kandinsky führte in seiner Schrift „Über das Geistige in der Kunst“5 (1911) quasi religiöse Deutungen ein. Auch Klee und Itten und selbst Malewitsch entwickelten religiöse, anthroposophische u.a. Kontexte, in denen diese „Idea“-Konzeption der Kunst weitere Varianten erfährt und als Überwindung des Materiellen gefeiert wird.6 Aus dem Aufschub von Sinngebung wird so eine umstandslose Überführung in einen „Gesamt-Sinn“, eine metaphysische, holistische Sinnstiftung. Die Selbstzeugnisse der abstrakten Moderne haben den Diskurs der Kunstgeschichte, die diese Meistererzählungen bis heute fortsetzt, immens beeinflusst. Damit wird verhindert, dass der Gegenstand ihrer Malerei, nämlich ihre Materialität und Medialität selbst ins Blickfeld gerät.

Als man in der Nachkriegszeit versuchte, die im Nationalsozialismus als „entartet“ ausgegrenzte Moderne zu rehabilitieren, und sich dabei auf die ungegenständliche Kunst beschränkte, wurden der Abstraktion weitere Deutungen als unmittelbare Sinnstiftungen aufgezwungen. Zum einen die, dass es sich um einen spezifischen Realismus handele, der z.B. mikroskopische Fotografien von Kleinstrukturen oder makroskopische Aufnahmen vom Weltall oder Bilder von Atom-Explosionen spiegele, ein Realismus also, der sich an der fortgeschrittenen (Kriegs-) Technologie orientiere. Zum anderen wurde die Abstraktion gewissermaßen zur Allegorie der Freiheit, die Zustimmung für sie durch die westdeutsche Kulturpolitik galt als Zeichen für deren demokratische Verfasstheit – auch hier ein übertragener Sinn, der aus einem historischen Kontext abgeleitet wird. Mit diesen Deutungen wird letztlich eine Verunsicherung wieder stillgestellt, deren Wirkungen aber weiter erfahrbar bleiben. Susanne Schossig hat in ihrer künstlerischen Praxis verschiedene Strategien entwickelt, in der formalen Gestaltung von Bildern den Deutungswunsch des Betrachters zu durchkreuzen. Diese sind im künstlerischen Prozess der Herstellung keineswegs nur an hoch reflektierte, theoretische Entscheidungen gebunden, sondern können auf der Grundlage von intuitiven, manchmal auch aus Negationen herausgearbeiteten Entscheidungen entstehen.

Der Einsatz des Zu-Sehen-Gebens geschieht in einem Prozess permanenten Ausweichens vor fixierter oder fixierender Zeichengebung. Und wer es schon einmal versucht hat, weiß, wie schwierig es ist, dieses Ausweichen aufrechtzuerhalten. Es ist entgegen der landläufigen Meinung keineswegs einfach, ungegenständlich zu arbeiten und konstant ungegenständlich zu bleiben. Die dadurch entstehende Unsicherheit überträgt sich auch auf die Vorstellung vom Raum: Es ist ein unendlicher, bewegter, aber keineswegs kontinuierlicher Raum, der uns aus den Bildern von Susanne Schossig entgegenzublicken oder sich zu entziehen scheint. Ich möchte mit einem Zitat von Merleau-Ponty aus „Le doute de Cézanne“7 schließen. Es handelt sich bei Susanne Schossigs Bildern um solche, die wir so wahrnehmen, wie „die entstehende Ordnung eines im Erscheinen begriffenen Dinges, das dabei ist, sich vor unseren Augen zu verdichten.“ Merleau- Ponty nennt eine solche Wahrnehmung „Perception primordiale“.

Aus der Rede zur Eröffnung der Ausstellung in der Galerie Steinbrecher, Bremen, 1997

Sigrid Schade
Postponed Meaning

About the difficulty of drawing non-representationally

A first glance at Susanne Schossig’s paintings brings to mind certain categories of art-historical classification with which the post-1945 generation grew up and which have become almost synonymous for Western „“modern art”, namely its “abstract” and “non-representational” forms.1 Abstract are the so-called sand paintings (sand and pigment on canvas) as well as the coloured and black-and-white drawings rendered on transparent material. Although abstraction represents a process canonized in the art history of the 20th century and postwar period, and thus does not seem to require any further legitimation, it must be noted that the patterns of interpretation in art history still remain unsatisfactory, something which was continually iterated in the apologetics of Wassily Kandinsky and Kazimir Malevich, for example.2 Now, in the wake of German reunification, we can rethink its achievements beyond the abstract link to political systems (i.e. Western democracies) and once again illuminate the subversive potential which has been virtually buried in the various interpretations of art history. That a subversive potential still exists is seen above all in the fact that such contemporary artists as Susanne Schossig address this issue and that their works relate more to Paul Cézanne, Claude Monet and Barnett Newman than to Kandinsky or Malevich.3 If one were to list once more the achievements of abstraction without mythicizing the “spiritual in art” that is common in art history, the following characteristics can be noted: the autonomation of visual means, the decoupling of the image from the object depicted, and the thematization of the materiality and mediality of painting, drawing and other genres.

These characteristics create, above all, an effect that arises upon viewing: the suspension or postponement of the automatic association of conceptual images with concepts that occupy our everyday perceptual processes. In other words: putting a stop to the interpretation that so obsessively as well as unconsciously accompanies our perception. Subjects always see themselves at the centre of their own perception. Of all that we see what is given to see, we believe that it is has been given to us to see and wants to be interpreted by us, as if the whole world has been designed for us. This infinite, insatiable and irrepressible will to interpretation in relation to ourselves, which makes the subject its centre, is halted and – if perhaps only for a moment – postponed by non-representational images. As a result, we as subjects are also postponed for a moment, stopped and catapulted from the centre of our perception. For whom – we ask ourselves – is something made that does not make an appeal to our understanding and does not permit our interpretation without further ado? Is it we who are doing any interpreting at all? Are we not just repeating interpretations that are suggested to us by education, memory, consensus, etc. An almost unbearable question. We cannot bear this stopping and postponing, and that is why we cannot stop interpreting. Susanne Schossig says that her paintings should „be still“, meditative. They should be images that do not add any further noise to daily chatter, that give us room to pause, to forget our day-to-day affairs – and thus ourselves – at least for a while. To be still or, in other words, to postpone meaning is likewise something which obviously cannot be endured for very long. And it is by no means easy to create images which fulfil this demand, since the onus of interpretation does not lie on the recipient but of course on the artist. It is she who has to develop strategies – specifically with respect to formal composition – that cross and decouple the trajectories of perceptual patterns. Cézanne once said that the painter, in order to see and paint, must “forget, become silent, be a perfect echo”4 This means nothing more than forgetting the significance of what is to be seen and painted in order to bring into play what is to be seen and painted itself: the materiality and mediality of images, namely surface, colour, brushstrokes, etc. Even if non-representational painting did indeed introduce a decoupling of the image from the depicted object, it has nevertheless chosen a different object: its own material. But apparently this was something even the avantgarde artists themselves were not able to abide, since they were the ones who frequently produced the interpretative presentations (manifests) as the very orientation which art history follows to the present day. The tracts they published for their own legitimation indicate a compulsion to provide meaning. They also testify to the pressure which artists felt to explain themselves. In his tract “Concerning the Spiritual in Art”5 (1911), Kandinsky introduced quasi-religious interpretations. Klee, Itten and even Malevich developed religious, anthroposophical and other contexts for providing this “ideal” concept of art with further variants that celebrated it as overcoming the material.6 The postponement of interpretation thus becomes a circumstantial transfer to a “total sense”, a metaphysical, holistic foundation of meaning. The self-testimonies of abstract modernism have immensely influenced the discourse of art history, something which continues in the master narratives to this day. This prevents the object of their painting, namely its materiality and mediality itself, from coming into view.

When attempts were made in the post-war period to rehabilitate modernism, which had been ostracized as “degenerate” under National Socialism, it thereby limited itself to non-representational art, with further interpretations being imposed on abstraction as a means of creating meaning directly. For one, there was a specific realism that reflected, for example, microscopic photographs of minute structures or macroscopic images of outer space or pictures of nuclear explosions, and thus a realism that was oriented to advanced (war) technology. For another, abstraction became, in a certain sense, an allegory of freedom; its approval by the cultural policy of West Germany was seen as a sign of its democratic constitution, again a figurative meaning derived from a historical context. Ultimately, with these interpretations an uncertainty was again laid to rest, but whose effects can still be felt today. In her artistic work, Susanne Schossig has developed various strategies for thwarting the viewer’s desire to interpret the formal design of her paintings. In the artistic process of their creation, these are by no means bound only to highly reflective, theoretical decisions, but instead can emerge on the basis of intuitive choices or, at times, choices drawn from negations. The use of the “to-be-seen” is employed as a procedure to evade fixed signs or their fixating on a permanent basis. And anyone who has ever tried this knows how difficult it is to maintain such an evasion. Contrary to popular belief, it is by no means easy to work abstractly but remain non-representational on a constant basis. The resulting uncertainty is also transported to the concept of space: It is an infinite, moving, but by no means continuous space which seems to look out at us from the paintings of Susanne Schossig, or to elude us. I would like to close with a quote by Merleau-Ponty from “Le doute de Cézanne”7. The paintings of Susanne Schossig are those which we perceive as „the emerging order of a thing in the process of appearing, about to condense before our eyes“. Merleau-Ponty referred to such perception as “perception primordial”.

From the speech at the opening in the Galerie Steinbrecher, Bremen, 1997

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